Wie ich wurde, was ich bin

 

Im ersten Moment würde ich berechtigterweise sagen, das Leben hat mich zu dem gemacht wer oder was ich jetzt bin. Grundsätzlich stimmt das ja auch, aber das sogenannte Leben ist ja bei jedem von uns anders. Jeder hat andere wichtige Stationen in seinem Leben durchlaufen, die genau die Person aus einem geformt haben, die man eben jetzt ist.

1. Kindheit in der DDR

Als Jahrgang 1976 habe ich bis zur frühen Pubertät meine Kindheit in der DDR erlebt und geliebt. 

Wohlbehütet in Kindergarten, Grundschule und Hort wuchs ich auf und bekam von all dem, was da ab Mitte der 80er Jahre so um mich rum brodelte, nichts mit.

Statt dessen, war ich ein fleißiger Pionier und demzufolge im Gruppenrat, im Freundschaftsrat, gab Nachhilfe und war zufrieden so wie es war.

Erst in den Jahren 1988/89 entdeckte ich, sehr zum Leidwesen meiner Eltern, das ich eine Meinung und eine Stimme habe, die ich auch vertreten darf. Ich gab mit als Erste den Pionierausweis ab und verweigerte wie der Rest der Klasse das „für Frieden und Sozialismus seid bereit“ und das im Herbst 1989 als die Wandlung gerade erst in Gang kam. In der damaligen politischen Situation für meine Eltern wirklich nicht einfach.

2. Pubertät und Abitur – alles neu macht die Wende

Ende der 80er Jahre, das wissen wir ja alle, kam die Wende. Pioniere und FDJ gab es nicht mehr, so vieles liebgewonne galt auf einmal als nicht mehr richtig und gar verpönt.

In einer Zeit, wo man als Jugendliche eh nach einer Richtung und seinem Weg sucht, verwirrend. Welche Schulbildung sollte man einschlagen? Lehre oder Studium? An wem sich orientieren?

Um Zeit zu schinden und natürlich auch, weil meine Noten es her gaben, wechselte ich wie so viele damals auf`s Gymnasium und absolvierte 1995 mein Abitur. 

Anfangs mit Plänen für ein Sozialpädagogik Studium, – – das mir zu praxisfern mehr Verwaltung war, dann mit einer Ausbildung zur Hebamme – da schreckten mich die geforderten Zahlen an Geburten mit Komplikationen und Co ab, fand ich schließlich mein Glück als Ausbildende zur Arzthelferin direkt vor Ort.

Helfen wollte ich, am Menschen dran sein und ich musste nicht mal von zu Hause weg ziehen. 

Letzteres blieb damals vielen nicht erspart. Für mich wäre es einer Katastrophe gleich gekommen, fand ich damals.

3. die 90er – Lehre, Liebe, Krieg im Kosovo

Meine 90er waren in erster Linie vom Lernen geprägt. Lernen für`s Abitur, für die Lehre, für den Berufsabschluss. Immer mit der Ansage von Eltern und Verwandten „streng dich an, du brauchst gute Noten, sonst kommst du nirgends unter“ 

Ja, das war die Angst in dieser Zeit, wenn man nicht die/der Beste war, dann wurde jemand anderes genommen und selber stand man blöd da.

Glücklicherweise hab ich in meiner Lehre früh vermittelt bekommen, das es der Umgang und das Gefühl für die Patienten sind, das Organisationstalent und das selbstständige Arbeiten, die ausschlaggebend sind und nicht die Noten.

Trotzdem war ich oft das schüchterne Häschen, zumindest tief innen drin, wenn das nach außen auch oft einen anderen Anschein hatte. Aber der Druck einen guten Eindruck machen zu müssen, war immer da, anerzogen und selbstgemacht.

Ende der 90er ging mein damaliger Freund und späterer Ehemann zur Bundeswehr und musste natürlich gleich mit zum Einsatz in den Kosovo. Erstmals musste ich auf mich allein gestellt, das Leben meistern. Natürlich hatte ich noch meine Eltern, aber die brauchten gesundheitlich in dieser Zeit mehr meine Hilfe, als das sie mir eine hätten sein können.

4. die 2000er – wir gründen eine Familie

Nach dem ersten Auslandseinsatz haben wir geheiratet, nach dem zweiten und dem Ausscheiden aus der Bundeswehr kam unser Sohn Phillip. 

Bilderbuchverlauf? 

Nicht so ganz, rückwirkend betrachtet. 

Ich war erst unter der Woche allein zu Hause als Soldatenehefrau, später dann als Ehefrau eines LKW-Fahrers. Erst im Nahverkehr, alsbald im Fernverkehr. Ich war auf mich allein gestellt.

Arbeit, Kindergarten, Haushalt und den ganz normalen Wahnsinn musste ich alleine stemmen und wurde das Gefühl nicht los, das es das doch nun nicht für die nächsten Jahre gewesen sein könnte.

Aber alles was mich neben der Arzthelferin noch interessierte, unter Umständen sogar eine berufliche Veränderung herbei führen könnte, war zu teuer, zu zeitaufwändig, zu weit weg und ich traute mich schlicht und einfach nicht aus meiner Komfortzone heraus.

Also blieb alles beim Alten.

5. die 2010er – Kehrtwende und Brustkrebs

Es kriselte in unsere Ehe, meine Unzufriedenheit wuchs. Mein Leben bestand aus der Arbeit in der Praxis, Kind und Haushalt, unserem Garten und der Versorgung meines Opas und der Unterstützung meiner Eltern. Abends war ich zwar kaputt, aber oft nicht erfüllt.

Phillip kam in die Schule und es setzte sich langsam der Abnabelungsprozess in Gang – alleine auf den Spielplatz oder zu Freunden, übernachten bei Freunden, später Sportverein und Co. Und ich hatte freie Zeit oder arbeitete je nach Dienstplan. Oder ich übte und büffelte mit Phillip, dem Mathe und Deutsch nicht gerade leicht fielen.

In dieser Zeit entdeckte ich Yoga für mich und darüber kam ich mit weiteren Entspannungsmethoden und auch Lebensmodellen in Kontakt. Manches erschien nicht unmöglich.

Ende 2010 war die Unzufriedenheit so groß, das ich erstmalig einen Aufstand veranstaltete und mich von meinem Mann trennen wollte. Durch lange, teils schmerzhafte, Gespräche konnten wir das Ruder herum reißen, kurzfristig zumindest. Beide hatten wir Fehler gemacht oder waren zu bequem gewesen.

Die Unzufriedenheit kam wieder und mein Wunsch nach Trennung und Veränderung, mitten rein platzte auch noch meine alte Jugendliebe von 1993.

Ab 2015 begann eine fordernde Zeit. 

Erst die Trennung, dann die sich ewig hinziehende Scheidung und dazu die neue alte Liebe, die auch nicht unkompliziert startete. 

Stress zu Hause, Stress mit dem Ex und Stress auf Arbeit, weil da eine Kollegin für länger ausgefallen war, umgezogen sind wir auch noch. Dazu Phillip mitten in der Pupertät und im Schulabschluss.

2018 als alles überwunden und in geordneten Bahnen schien, entdeckte ich einen Knoten in meiner Brust. Das Leben stand wieder Kopf, aber diesmal heftiger als jemals zuvor.

6. Brustkrebs und mein zweites Leben

Stell dir vor, nach dem Seilspringen tut da was in deiner rechten Brust weh. Tage später wird man dir erklären, das du Brustkrebs hast und nichts wird mehr sein wie vorher.

Um die Diagnose und Therapie zu verarbeiten, fing ich an zu bloggen. 

„Horst muss sterben“ ist zuerst nur aus diesem Grund entstanden. Erst im Laufe der Zeit entwickelte sich der Blog zu dem was er heute ist.

Nach 16 Chemotherapien, 3 OP`s und einem Herzkatheter war klar:

1. ich kann nicht mehr in meinen Beruf  bzw. ins Arbeitsleben zurück und das wo ich wirklich gerne als Arzthelferin gearbeitet habe

2. ich bin ein Mutant, könnte also wieder Krebs bekommen

3. ich möchte als EM-Rentner nicht nur auf der Couch sitzen

Das, was ich in all den Jahren unter keinen Umständen haben wollte, war jetzt eingetreten. 

Abhängig zu sein von Behörden, von deren Wohlwollen und Geldern und meinen Lebensgefährten um Geld bitten zu müssen. 

DAS BIN NICHT ICH! 

DAS WILL ICH NICHT SEIN!

Was also tun?

Was anfänglich nur ein loser Kontakt via Facebook war, entwickelte sich dann zu meiner eigenen Ausbildung zum psychoonkologischen Begleiter und inzwischen virtuellen Assistentin und Dozentin bei Andrea Heckmann. Sie hat von Anfang an an mich geglaubt und viel mehr in mir gesehen als ich selbst und vor allem die nötige Geduld mit mir gehabt.

Ich engagierte mich in der Netzwerkstattkrebs recht zügig, nachdem ich die ersten Male dabei war 2020, übernahm noch im selben Jahr die Leitung der Onlineselbsthilfegruppe, weil unsere liebe Patricia leider ihren letzten Weg eingeschlagen hatte.

Durch Corona war ich, und so viele andere auch, gezwungen online zu arbeiten, mir weitere Fähigkeiten am PC anzueignen. Zoom, GoogleDrive, Social Media und Co.

Was ich mir früher nie getraut hätte, ging jetzt auf einmal. 

Ich belegte weitere Kurse online oder per Selbststudium. Inzwischen bin ich Meditationsleiter und schließe in den nächsten Wochen den Kursleiter Waldbaden ab.

Ich kontaktierte andere Blogger oder Buchautoren ohne Scheu und so entwickelte sich ab 2019 mein eigenes kleines buntes Netzwerk.

Und ich entwickelte mich!

Anfangs völlig desillusioniert, gelang es mir, auch mit gut Zureden von außen, mich wieder auf meine Beine zu stellen. 

Heute bin ich virtuelle Assistentin, psychoonkologische Begleiterin und Beraterin, engagiert in einigen Krebsorganisationen, Fotomodell, entdecke mit Heike E.M.Jänicke meine kreative Ader, bin offen für Neues und vor allem glücklich und erfüllt, mit dem was ich tue.

Und nicht zuletzt, hab ich auch mein privates Glück gefunden.

Zwischen 40 und 45 hat mein Leben noch einmal eine völlig andere Richtung eingeschlagen.

Ich helfe immer noch Menschen und bin nah an ihren dran und von zu Hause weg muss ich, dank der Technik, auch nicht mehr. Aber jetzt macht es mir Spaß zu reisen und unterwegs zu sein. 

Ich habe gelernt, mich von dem zu trennen was mir nicht gut tut, Nein zu sagen. Mein Körper bzw. die berüchtigte Miss Fatigue, die gerne Verstärkung von Gisela Lymphoedem bekommt, zeigt mir sehr deutlich, wann Schluss ist. 

Ein Weg, der nicht immer leicht zu gehen war, den ich aber mit Mut zur Veränderung, Vertrauen in mich und meine Fähigkeiten und auch der Lust am Leben geschafft habe.

Und das kannst du auch!

8 Gedanken zu „Wie ich wurde, was ich bin“

  1. Hallo Anett, da hast Du aber auch schon echt dein Päckchen zu tragen gehabt. Ich bin sehr froh, dass ich Dich, wenn auch über eine nicht wirklich tolle Sache, die uns beide ereilt hat, gefunden zu haben. Vielleicht schaffen wir es auch endlich mal uns persönlich zu treffen, bis dahin genieße ich unsere Chatgespräche. Grüßle Ela

  2. Hallo Anett, danke, dass du das alles aufgeschrieben hast mit allen Höhen und Tiefen. Ich freue mich für dich, dass es zur richtigen Zeit einen Menschen gab, der bedingungslos an dich und dein Talent geglaubt hat. Ich habe eine ähnliche Erfahrung gemacht. Sowas kann Flügel verleihen!

  3. Andrea 30.05. 9.00 Uhr
    Liebe Anett ! Danke für den schönen Beitrag. Er ist ein richtiger Mutmachet. Das heißt jetzt für mich kämpfen und nicht den Kopf hängen lassen.

  4. Ein sehr bewegtes Leben hast du gehabt, liebe Anett! Jetzt weiß ich auch die vielen HIntergründe, kenne dich ein bisschen besser! Danke fürs Teilen!

  5. Danke für deine lieben Worte.
    Ja Andrea war da sehr ausdauernd zu einer Zeit, zu der ich mich nur im Kreis gedreht habe. Und dafür bin ich sehr dankbar.
    Ohne den ollen Horst = mein Brustkrebs, hätte ich sie und viele andere tolle Menschen nicht kennengelernt.

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